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Steuerberatung

AO-Änderungsvorschriften: Vorrang der Rechtskraftwirkung des BFH-Urteils

BFH v. 4.3.2020 - II R 11/17

§ 110 Abs. 2 FGO ist da­hin­ge­hend aus­zu­le­gen, dass die Rechts­kraft ei­nes Ur­teils Vor­rang ggü. den Ände­rungs­vor­schrif­ten der AO hat. Eine Durch­bre­chung der Rechts­kraft ei­nes Ur­teils auf­grund geänder­ter Sach­lage ist nur in en­gen Gren­zen möglich. Sie ist ins­bes. dann aus­ge­schlos­sen, wenn das Ge­richt im Ur­teil Bo­den­richt­werte nicht berück­sich­ti­gen konnte, weil sie zum Zeit­punkt der ge­richt­li­chen Ent­schei­dung trotz mehr­ma­li­ger Auf­for­de­run­gen an den Gut­ach­ter­aus­schuss nicht er­mit­telt wur­den, eine sol­che Er­mitt­lung aber nach Rechts­kraft der ge­richt­li­chen Ent­schei­dung er­folgte, ohne dass für die verzögerte Be­ar­bei­tung ein sach­li­cher Grund er­kenn­bar wurde.

Der Sach­ver­halt:
Das Land B brachte 2001 u.a. ein Kran­ken­haus ein­schließlich des Grundstücks als Sach­ein­lage in die Kläge­rin - eine GmbH - ein. In der Folge ent­stand ein Vor­pro­zess um die Be­mes­sungs­grund­lage für die Grund­er­werb­steuer. Pro­ble­ma­ti­sch war da­bei, dass der Gut­ach­ter­aus­schuss den Bo­den­richt­wert nicht (recht­zei­tig) er­mit­telte.

Während das FG da­von aus­ging, den Bo­den­richt­wert schätzen zu können, re­du­zierte der BFH in der Re­vi­si­ons­in­stanz die Grund­er­werb­steuer um ca. 23 Mio DM, da er nur den rei­nen Gebäude­wert berück­sich­tigte. Der Wert des Grund und Bo­dens blieb un­berück­sich­tigt. Der Gut­ach­ter­aus­schuss sei sei­ner Ver­pflich­tung nach § 196 BauGB nicht nach­ge­kom­men, für das Grundstück einen Bo­den­richt­wert zu er­mit­teln und habe eine Er­mitt­lung trotz mehr­fa­cher An­frage ab­ge­lehnt. In einem sol­chen Fall könne die Fi­nanz­ver­wal­tung nach § 145 Abs. 3 BewG a.F. keine ei­ge­nen Bo­den­richt­werte aus den Wer­ten ver­gleich­ba­rer Flächen her­lei­ten. Da­her sei für den Grund und Bo­den man­gels ei­nes fest­ge­stell­ten Bo­den­richt­werts kein Wert an­zu­set­zen (BFH v. 25.8.2010 - II R 42/09).

Nach Ein­tritt der Rechts­kraft des BFH-Ur­teils er­mit­telte der Gut­ach­ter­aus­schuss schließlich den Bo­den­richt­wert für das Grundstück, was den ak­tu­el­len Rechts­streit zur Folge hatte, da das Fi­nanz­amt in der Folge dar­auf be­zo­gen eine stark erhöhte Grund­er­werb­steuer ein­for­derte. Hier­ge­gen ging die Kläge­rin er­neut vor mit der Begründung, dem erhöhten Grund­er­werb­steu­er­be­scheid stehe die Rechts­kraft des BFH-Ur­teils aus dem Vor­pro­zess ent­ge­gen.

Das FG wies die Klage ab, da die in­zwi­schen er­folgte Er­mitt­lung des Bo­den­richt­werts durch den Gut­ach­ter­aus­schuss als rück­wir­ken­des Er­eig­nis nach § 175 AO in­so­weit maßgeb­lich sei. Auf die Re­vi­sion der Kläge­rin hob der BFH das Ur­teil auf und gab der Klage statt.

Die Gründe:
Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des FG steht die Rechts­kraft­wir­kung des BFH-Ur­teils ei­ner Ände­rung des Fest­stel­lungs­be­scheids über die Grund­er­werb­steuer ent­ge­gen.

Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO bin­den rechtskräftige Ur­teile die Be­tei­lig­ten, so­weit über den Streit­ge­gen­stand ent­schie­den wurde. Die ge­gen eine Fi­nanz­behörde er­gan­ge­nen Ur­teile wir­ken auch ggü. der öff­ent­lich-recht­li­chen Körper­schaft, der die be­tei­ligte Fi­nanz­behörde an­gehört (§ 110 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die Ände­rung ei­nes Fest­stel­lungs­be­scheids nach den Vor­schrif­ten der AO ist gem. § 110 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO aus­ge­schlos­sen, so­weit zu dem steu­er­li­chen Sach­ver­halt, des­sen steu­er­li­che Fol­gen durch den Ände­rungs­be­scheid ge­zo­gen wer­den sol­len, be­reits ein rechtskräfti­ges Ur­teil mit Bin­dungs­wir­kung für die Be­tei­lig­ten be­steht. Nach der Re­ge­lung des § 110 Abs. 2 FGO blei­ben die Vor­schrif­ten der AO über die Ände­rung von Ver­wal­tungs­ak­ten - wie z.B. § 175 AO - un­berührt, so­weit sich aus § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO nichts an­de­res er­gibt. § 110 Abs. 2 FGO ist nach der Recht­spre­chung des BFH i.S. ei­nes Vor­rangs der Rechts­kraft ge­genüber den Ände­rungs­vor­schrif­ten der AO aus­zu­le­gen.

Für den Um­fang der Bin­dungs­wir­kung ei­nes rechtskräfti­gen Ur­teils ist der Be­griff Streit­ge­gen­stand in § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO i.S.v. "Ent­schei­dungs­ge­gen­stand" zu ver­ste­hen. Dies ist die Teil­menge al­ler mit dem an­ge­foch­te­nen Ver­wal­tungs­akt er­fass­ten Be­steue­rungs­grund­la­gen, über die das Ge­richt ent­schie­den hat. Der sach­li­che Um­fang der Bin­dungs­wir­kung ei­nes rechtskräfti­gen Ur­teils er­gibt sich in ers­ter Li­nie aus der Ur­teils­for­mel. Zu de­ren Aus­le­gung sind er­for­der­li­chen­falls Tat­be­stand und Ent­schei­dungsgründe her­an­zu­zie­hen, ohne dass die Begründung ei­nes Ur­teils als sol­che bzw. die Ur­teils­ele­mente rechts­kraftfähig wären. Es kommt so­mit al­lein dar­auf an, worüber das Ge­richt ent­schie­den hat.

Im Streit­fall stand ei­ner Ände­rung des be­tref­fen­den Fest­stel­lungs­be­scheids die Rechts­kraft des zu­vor er­gan­ge­nen BFH-Ur­teils ent­ge­gen. Der BFH hatte ent­schie­den, dass die Klage begründet und der fest­ge­stellte Grundstücks­wert auf 61 Mio. DM (31 Mio. €) her­ab­zu­set­zen war. Da für das zu be­wer­tende Grundstück kein vom Gut­ach­ter­aus­schuss er­mit­tel­ter Bo­den­richt­wert vor­ge­le­gen habe, habe bei der Fest­stel­lung des Grundstücks­werts nur der Gebäude­wert, nicht aber ein Bo­den­wert Berück­sich­ti­gung fin­den dürfen. In den Gründen sei­ner Ent­schei­dung stellte der BFH ausdrück­lich dar­auf ab, der Gut­ach­ter­aus­schuss sei sei­ner Ver­pflich­tung nach § 196 BauGB nicht nach­ge­kom­men, für das Grundstück einen Bo­den­richt­wert auf den 1.1.1996 zu er­mit­teln und der Fi­nanz­ver­wal­tung mit­zu­tei­len. Viel­mehr habe er eine Er­mitt­lung trotz An­frage des Fi­nanz­amt sab­ge­lehnt und die Ab­leh­nung da­mit begründet, er sei zu ei­ner sol­chen Er­mitt­lung we­der ver­pflich­tet noch in der Lage. Das Grundstück eigne sich nicht für die Er­mitt­lung ei­nes Bo­den­richt­werts.

Nach der Ent­schei­dung des BFH kann in einem sol­chen Fall die Fi­nanz­ver­wal­tung nach § 145 Abs. 3 BewG keine ei­ge­nen Bo­den­richt­werte aus den Wer­ten ver­gleich­ba­rer Flächen her­lei­ten. Ein Bo­den­wert war folg­lich bei der Be­wer­tung des Grundstücks nicht an­zu­set­zen. Bezüglich die­ser Fest­stel­lung ent­fal­tet das BFH-Ur­teil Bin­dungs­wir­kung. Dem Aus­schluss der Ände­rungsmöglich­keit des Fest­stel­lungs­be­scheids auf­grund der Bin­dungs­wir­kung des BFH-Ur­teils steht auch nicht die Recht­spre­chung des BVerwG ent­ge­gen, die un­ter ge­wis­sen Vor­aus­set­zun­gen ein Ende der Rechts­kraft­wir­kung von Ur­tei­len an­nimmt, wenn sich die Sach- und Rechts­lage nachträglich verändert.

Auch aus § 100 Abs. 1 Satz 1 Halb­satz 2 FGO er­gibt sich nichts an­de­res. Nach die­ser Vor­schrift ist die Fi­nanz­behörde an die recht­li­che Be­ur­tei­lung ge­bun­den, die der Auf­he­bung zu­grunde liegt, an die tatsäch­li­che so weit, als nicht neu be­kannt wer­dende Tat­sa­chen und Be­weis­mit­tel eine an­dere Be­ur­tei­lung recht­fer­ti­gen. Die Vor­schrift re­gelt ne­ben § 110 FGO die Wir­kung der nach § 100 Abs. 1 Satz 1 Halb­satz 1 FGO er­folg­ten Auf­he­bung ei­nes rechts­wid­ri­gen Ver­wal­tungs­akts durch das Ge­richt. So­weit die Vor­schrift das­je­nige, was neu be­kannt wird, von der Bin­dungs­wir­kung aus­nimmt, gilt das in­des nicht für sol­che Tat­sa­chen oder Be­weis­mit­tel, die den Ent­schei­dungs­ge­gen­stand ei­nes rechtskräfti­gen Ur­teils be­tref­fen.

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