Bei wirtschaftlichen Krisen oder strukturellen Veränderungen in Unternehmen kommt es häufig zu nicht unerheblichem Personalabbau. In diesem Fall ist der Arbeitgeber zur Abgabe einer sog. Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit verpflichtet. Eine solche ist immer dann erforderlich, wenn der Arbeitgeber beabsichtigt, innerhalb von 30 Kalendertagen eine gesetzlich festgelegte Zahl an Arbeitnehmern zu entlassen, § 17 Abs. 1 KSchG. Zu solchen Entlassungen gehören neben Kündigungen jeglicher Art auch arbeitgeberseitig veranlasste Aufhebungsverträge. Die Schwelle zur Massenentlassung variiert dabei je nach der Größe des Betriebes. Soweit ein Betriebsrat vorhanden ist, ist vorab zwingend mit diesem das sog. Konsultationsverfahren durchzuführen.
Hinweis: Das Konsultationsverfahren ist nicht mit den Verhandlungen zu einem Interessenausgleich nach § 111 BetrVG gleichzusetzen, auch wenn beide Verfahren parallel laufen können. Beim Konsultationsverfahren ist eine vorherige schriftliche Information des Betriebsrats zu den in § 17 Abs. 2 KSchG genannten Angaben erforderlich.
Konsequenzen einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige
Unterbleibt eine Massenentlassungsanzeige oder wird sie fehlerhaft erstellt, legen weder Gesetz noch Unionsrecht eine zwingende Rechtsfolge fest. Lediglich nach der ständigen Rechtsprechung des BAG war die Rechtsfolge bislang eindeutig. So führte eine fehlende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen, § 134 BGB, - und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich individuelle Kündigungsgründe vorliegen. Auch eine nachträgliche Heilung etwaiger Mängel der Massenentlassungsanzeige ist bislang nicht möglich.
Fehler bei der Massenentlassungsanzeige können daher zu erheblichen rechtlichen und finanziellen Konsequenzen für die kündigenden Arbeitgeber führen.
Rechtsprechungswandel
Diese folgenschwere Rechtsfolge befindet sich derzeit im Wandel. So entschied der EuGH mit Urteil vom 13.07.2023 (Rs. C-134-22) auf eine Anfrage des VI. Senats des BAG (Beschluss vom 27.01.2022, Az. 6 AZR 155/21), dass die Pflicht zur Übermittlung einer Massenentlassungsanzeige an die zuständige Agentur für Arbeit nicht dem Individualschutz des betroffenen Arbeitnehmers dient. Vielmehr solle hierdurch in erster Linie erreicht werden, dass die zuständige Agentur für Arbeit frühzeitig involviert wird und ihre Aufgabe der Vermittlung entlassener Arbeitnehmer erfüllen kann.
Auf Grundlage dessen beabsichtigt der VI. Senat des BAG nun, seine Rechtsprechung dahingehend zu ändern, dass selbst das vollständige Fehlen einer Massenentlassungsanzeige nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt, da eine solche scharfe Sanktion der Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen unionsrechtlich nicht geboten sei.
Divergenzanfrage an den II. Senat des BAG
Da diese Rechtsprechungsänderung aber auch von der Rechtsprechung des II. Senats des BAG abweichen würde, stellte der VI. Senat eine sog. Divergenzanfrage an den II. Senat, um zu klären, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten möchte.
Der II. Senat stimmt der Rechtsauffassung des VI. Senats nicht uneingeschränkt zu. Aus seiner Sicht ist es mit Unionsrecht nicht vereinbar, dass Fehler bei der Massenentlassungsanzeige keinerlei rechtlichen Einfluss auf die Beendigung der gekündigten Arbeitsverhältnisse haben sollen. Nach Ansicht des II. Senats müssten ausgesprochene Kündigungen zwar nicht „unrettbar“ nichtig sein, sondern könnten durch eine Nachholung einer ordnungsgemäßen Anzeige bei der Agentur für Arbeit geheilt werden. Es sei aber danach zu differenzieren, ob überhaupt keine oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige erstattet wurde. Auch der II. Senat hat nunmehr den EuGH angerufen und um Bewertung der damit in Zusammenhang stehenden Fragen gebeten (Beschluss vom 01.02.2024 - 2 AS 22/23). Eine Entscheidung des EuGH bleibt abzuwarten.
Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat muss nach wie vor eingehalten werden!
Eine etwaige Rechtsprechungsänderung würde sich ausdrücklich lediglich auf die Anzeige bei der Agentur für Arbeit beziehen und nicht auf die ordnungsgemäße Durchführung des Konsultationsverfahrens, sollte es einen Betriebsrat geben. Beide Senate des BAG sind sich einig, dass bei Fehlern im Konsultationsverfahren nach wie vor alle Kündigungen unwirksam sind. Eine entsprechende, dies bestätigende Entscheidung hat der VI. Senat für den 23.05.2024 angekündigt. Es bleibt daher in jedem Fall dabei, dass Arbeitgeber i. R. d. Konsultationsverfahrens auf eine vollständige und vor allem schriftliche Information des Betriebsrates achten sollten.
Weitere Fallstricke bei der Massenentlassungsanzeige
Bei der Abgabe der Massenentlassungsanzeige bleibt zudem die Fehlerquelle der korrekten Bestimmung des „Betriebs im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie“, der „in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer“ sowie der erfassten „Entlassungen“ bestehen, auf die ein besonderes Augenmerk zu legen ist. Wichtig ist, dass in die Berechnung der Schwelle der Massenentlassungsanzeige sämtliche Entlassungen einzubeziehen sind. Dazu gehören neben regulären Kündigungen und Aufhebungsverträgen auch Probezeitkündigungen, bei denen noch kein Kündigungsschutz besteht und somit ein sozial gerechtfertigter Grund noch nicht erforderlich ist. Werden sie bei der Massenentlassungsanzeige vergessen, sind auch sie unwirksam.