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Rechtsberatung

Anpassungsbedarf beim Liefer- und Vertriebsvertrag? - Überblick zum novellierten Vertriebskartellrecht

Das Jah­res­ende bie­tet mit Blick auf aus­lau­fende Verträge und jähr­li­che Kon­di­tio­nen­ge­spräche mit Ver­triebs­part­nern und Lie­fe­ran­ten einen gu­ten An­lass, die Vor­ga­ben der zum 01.06.2022 no­vel­lier­ten VO (EU) 2022/720 („Ver­ti­kal-GVO“) und der da­zu­gehöri­gen Ver­ti­kal-Leit­li­nien der Eu­ropäischen Kom­mis­sion um­zu­set­zen. Die Frist für die An­pas­sung von Alt­verträgen an die neue Rechts­lage läuft am 31.05.2023 ab. Die neue Ver­ti­kal-GVO bie­tet zu­dem zusätz­li­che Ge­stal­tungs­spielräume, etwa beim On­line-Ver­trieb oder in Al­lein­ver­triebs­sys­te­men. Eine Ak­tua­li­sie­rung von Lie­fer- und Ver­triebs­ver­ein­ba­run­gen kann da­her auch aus wirt­schaft­li­cher Sicht in­ter­es­sant sein.

Im deut­schen und eu­ropäischen Kar­tell­recht fal­len auch „ver­ti­kale“ Wett­be­werbs­be­schränkun­gen, die auf ei­ner Ver­ein­ba­rung zwi­schen Lie­fe­ran­ten und Ab­neh­mern be­ru­hen, un­ter das Kar­tell­ver­bot des Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB. Über die Ver­ti­kal-GVO sind je­doch be­stimmte Ar­ten von ver­ti­ka­len Ver­ein­ba­run­gen von dem Kar­tell­ver­bot aus­ge­nom­men und da­mit zulässig, da sie grundsätz­lich als nicht schädlich bzw. zum Teil so­gar als wett­be­werbsfördernd an­ge­se­hen wer­den. Die Prüfung, ob die Vor­aus­set­zun­gen für eine sol­che Frei­stel­lung vor­lie­gen, ob­liegt den be­tei­lig­ten Un­ter­neh­men. Eine feh­lende Frei­stel­lung kann zur Nich­tig­keit der Ver­ein­ba­rung führen und Bußgelder nach sich zie­hen. Wir ge­ben einen Über­blick über die we­sent­li­chen Ände­run­gen der neuen Ver­ti­kal-GVO.

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E-Commerce und Online-Plattformen

Im Be­reich des E-Com­merce sieht die re­for­mierte Ver­ti­kal-GVO zahl­rei­che Neu­re­ge­lun­gen vor. Diese nor­mie­ren weit­ge­hend die be­reits durch Recht­spre­chung und Behörden­pra­xis der letz­ten Jahre aus­ge­form­ten Leit­plan­ken.

Im Zen­trum steht die Re­ge­lung, dass die Ver­hin­de­rung des Ab­neh­mers zur wirk­sa­men Nut­zung des In­ter­nets als Ver­kaufs­ka­nal eine un­zulässige Kern­be­schränkung dar­stellt. Dem Ab­neh­mer darf z. B. nicht un­ter­sagt wer­den, einen ei­ge­nen On­line-Shop zu be­trei­ben. Nach den Leit­li­nien darf ihm auch nicht ge­ne­rell die Nut­zung von Such­ma­schi­nen und Preis­ver­gleichs­diens­ten ver­bo­ten wer­den. Möglich kann da­ge­gen eine Be­schränkung des Ab­neh­mers bei der Nut­zung von On­line-Marktplätzen sein.

Neue­run­gen er­ge­ben sich für sog. „Dop­pel­preis­sys­teme“, bei de­ren Ge­stal­tung nach den neuen Ver­ti­kal-Leit­li­nien mehr Spiel­raum be­steht. Bei Dop­pel­preis­sys­te­men be­zahlt der Ab­neh­mer für on­line ver­kaufte Wa­ren einen an­de­ren Ein­kaufs­preis als für offline ver­kaufte Wa­ren. Hier sind nach der geänder­ten Rechts­lage ggf. in­ter­es­sante neue Kon­di­tio­nen­ge­stal­tun­gen möglich.

Erst­mals wird durch Ver­ti­kal-GVO und Leit­li­nien auch das Ge­schäfts­mo­dell von On­line-Platt­for­men spe­zi­fi­sch adres­siert. Eine be­deu­tende Ände­rung er­gibt sich in­so­weit für die nach al­ter Rechts­lage viel­fach gewähl­ten Han­dels­ver­tre­ter-Kon­struk­tio­nen. Die Leit­li­nien stel­len klar, dass in der On­line-Platt­form­wirt­schaft tätige Un­ter­neh­men in der Re­gel nicht als kar­tell­recht­li­che Han­dels­ver­tre­ter an­zu­se­hen sind. De­zi­dierte Re­ge­lun­gen se­hen die Ver­ti­kal-Leit­li­nien zu­dem für An­bie­ter von „On­line-Ver­mitt­lungs­diens­ten“, wie z. B. On­line-Marktplätzen, Preis­ver­gleichs­platt­for­men und App-Stores vor.

Hin­weis: Auf­grund der vielfälti­gen neuen Re­ge­lun­gen dürfte eine Überprüfung be­ste­hen­der Ver­ein­ba­run­gen mit Platt­for­men bzw. eine Prüfung be­ste­hen­der Platt­form­mo­delle vor dem 31.05. 2023 sinn­voll sein.

Exklusivvertrieb, Selektivvertrieb, Abgrenzung verschiedener Vertriebssysteme

Eine be­deu­tende Ände­rung sieht die neue Ver­ti­kal-GVO in Be­zug auf Al­lein­ver­triebs­sys­teme vor. Hier be­steht nun die Möglich­keit, ein Ver­triebs­ge­biet oder eine Kun­den­gruppe nicht mehr nur einem, son­dern bis zu fünf Händ­lern ex­klu­siv zu­zu­wei­sen. Zu­dem hat der An­bie­ter mehr Spiel­raum, par­al­lel be­trie­bene Al­lein- und Se­lek­tiv­ver­triebs­ge­biete bes­ser ge­gen Verkäufe aus dem je­weils an­de­ren Ge­biet so­wie aus freien Ge­bie­ten zu schützen.

Hin­weis: Vor die­sem Hin­ter­grund kann eine Überprüfung be­ste­hen­der Ver­triebs­sys­teme auf zusätz­li­che Ge­stal­tungsmöglich­kei­ten Sinn ma­chen.

Dualer Vertrieb

Eine we­sent­li­che Klar­stel­lung sieht die neue Ver­ti­kal-GVO zu­dem in Be­zug auf den In­for­ma­ti­ons­aus­tausch beim „dua­len“ Ver­trieb vor. Von dua­lem oder „zwei­glei­si­gem“ Ver­trieb spricht man, wenn ein An­bie­ter par­al­lel zu sei­nen Ver­triebs­part­nern auch selbst auf der nach­ge­la­ger­ten Mark­stufe ver­treibt, z. B. ein Her­stel­ler, der ne­ben sei­nem Ver­triebs­part­ner­netz einen ei­ge­nen B2C-On­line-Shop un­terhält. In die­sen Fällen sind An­bie­ter und Ab­neh­mer Wett­be­wer­ber auf dem nach­ge­la­ger­ten Markt.

Die neue Ver­ti­kal-GVO stellt nun klar, dass ein Aus­tausch wett­be­werb­lich sen­si­bler In­for­ma­tio­nen zwi­schen An­bie­ter und Ab­neh­mer in die­sen Kon­stel­la­tio­nen nur frei­ge­stellt ist, so­weit die­ser die di­rekte Um­set­zung der Ver­triebs­ver­ein­ba­rung be­trifft und zur Ver­bes­se­rung der Pro­duk­tion oder des Ver­triebs der Ver­trags­wa­ren oder -dienst­leis­tun­gen er­for­der­lich ist.

Hin­weis: An­pas­sungs­be­darf kann da­her bei Ver­triebs­klau­seln be­ste­hen, die die Wei­ter­gabe bzw. den Aus­tausch von be­stimm­ten stra­te­gi­schen Ge­schäfts­in­for­ma­tio­nen im dua­len Ver­trieb be­tref­fen.

Lockerung bei Wettbewerbsverboten

Auch bei Wett­be­werbs­ver­bo­ten bzw. Ex­klu­siv­bin­dun­gen des Ab­neh­mers sieht die neue Ver­ti­kal-GVO eine höchst pra­xis­re­le­vante Ände­rung vor. Im Ge­gen­satz zur al­ten Rechts­lage sind nun­mehr sog. „ever­green clau­ses“ un­ter be­stimm­ten Vor­aus­set­zun­gen frei­ge­stellt, wo­nach sich ein auf ma­xi­mal fünf Jahre be­fris­te­tes Wett­be­werbs­ver­bot mit sei­nem Ab­lauf au­to­ma­ti­sch verlängert.

Klarstellungen beim Handelsvertretervertrieb

Schließlich se­hen die neuen Ver­ti­kal-Leit­li­nien wich­tige Klar­stel­lun­gen in Be­zug auf das kar­tell­recht­li­che Han­dels­ver­tre­ter­pri­vi­leg vor. Sog. „echte“ kar­tell­recht­li­che Han­dels­ver­tre­ter­kon­stel­la­tio­nen ermögli­chen es dem An­bie­ter, ge­genüber dem Han­dels­ver­tre­ter wei­ter­ge­hende Vor­ga­ben hin­sicht­lich des Wei­ter­ver­kaufs der Ver­trags­wa­ren zu ma­chen als ge­genüber klas­si­schen Händ­lern.

Die neuen Leit­li­nien ent­hal­ten in­so­weit Klar­stel­lun­gen und Neue­run­gen, u. a. was die Frage des Ei­gen­tums­er­werbs des Han­dels­ver­tre­ters, De­tails bezüglich der re­le­van­ten Ri­si­ken und par­al­lele Tätig­kei­ten des Han­dels­ver­tre­ters für meh­rere Ge­schäfts­her­ren (sog. „Han­dels­ver­tre­ter mit Dop­pelprägung“) be­trifft. Wie be­reits aus­geführt, stel­len die Leit­li­nien zu­dem klar, dass Ver­ein­ba­run­gen zwi­schen Un­ter­neh­men, die in der On­line-Platt­form­wirt­schaft tätig sind, in der Re­gel nicht die Vor­aus­set­zung für das Han­dels­ver­tre­ter­pri­vi­leg erfüllen.

Hin­weis: Es kann da­her sinn­voll sein, be­ste­hende Han­dels­ver­tre­ter­kon­stel­la­tio­nen an­hand der Neu­re­ge­lun­gen auf An­pas­sungs­be­darf und zusätz­li­che Re­ge­lungsmöglich­kei­ten zu überprüfen.

Kernbeschränkungen weitgehend unverändert

In Be­zug auf die nach der Ver­ti­kal-GVO nicht vom Kar­tell­ver­bot frei­ge­stell­ten Kern­be­schränkun­gen ha­ben sich keine we­sent­li­chen Ände­run­gen er­ge­ben. Grundsätz­lich un­zulässig ist nach wie vor die Be­schränkung des Ab­neh­mers, seine Ver­kaufs­preise selbst fest­zu­set­zen. Ge­biets- und Kun­den­grup­pen­be­schränkun­gen sind wei­ter­hin nur in eng de­fi­nierte Aus­nah­men möglich.

Hin­weis: Hier ist da­her wei­ter­hin Vor­sicht ge­bo­ten: Verstöße ge­gen Kern­be­schränkun­gen wer­den re­gelmäßig von den Kar­tell­behörden auf­ge­grif­fen und mit emp­find­li­chen Bußgel­dern be­legt, un­abhängig von der Größe der Un­ter­neh­men oder der Bran­che.

Au­to­ren: Dr. Chris­toph Stock, Na­dine Bläser LL.M., Edu­ard En­gel­mann

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