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EuGH zur Frage der Zulässigkeit einer steuer- und strafrechtlichen (Doppel-)Sanktionierung einer Steuerhinterziehung

Urteil des EuGH vom 26.2.2013 - C-617/10

Der EuGH hat den An­wen­dungs­be­reich der Charta der Grund­rechte präzi­siert und den Grund­satz des Ver­bots der Dop­pel­be­stra­fung aus­ge­legt. Die­ser Grund­satz hin­dert einen Mit­glied­staat nicht daran, we­gen der­sel­ben Tat der Steu­er­hin­ter­zie­hung nach­ein­an­der eine steu­er­li­che Sank­tion (Steu­er­zu­schlag) und da­nach eine straf­recht­li­che Sank­tion zu verhängen, wenn die er­ste Sank­tion kei­nen straf­recht­li­chen Cha­rak­ter hat.

Der Sach­ver­halt:
Ein Recht, das so­wohl von der Grund­rech­techarta der Union als auch von der Eu­ropäischen Kon­ven­tion zum Schutz der Men­schen­rechte und Grund­frei­hei­ten (EMRK) an­er­kannt wird, ist das Grund­recht, wo­nach nie­mand we­gen ein und der­sel­ben Zu­wi­der­hand­lung straf­recht­lich zwei­mal ver­folgt oder be­straft wer­den darf (Grund­satz "ne bis in idem"). Im Hin­blick auf die­ses Ver­bot der Dop­pel­be­stra­fung stellt sich dem Ge­richt ers­ter In­stanz von Ha­pa­randa (Schwe­den) die Frage, ob ge­gen einen An­ge­schul­dig­ten ein Straf­ver­fah­ren we­gen Steu­er­hin­ter­zie­hung ein­ge­lei­tet wer­den darf, wenn we­gen der­sel­ben Tat der Ab­gabe un­rich­ti­ger Erklärun­gen be­reits steu­er­li­che Sank­tio­nen ge­gen ihn fest­ge­setzt wur­den.

Der Be­schul­digte im Streit­fall wid­met sich als Selbständi­ger in Schwe­den vor­nehm­lich dem Fisch­fang und dem Ver­kauf sei­ner Fänge. Die schwe­di­sche Fi­nanz­ver­wal­tung wirft ihm vor, er sei sei­nen steu­er­li­chen Erklärungs­pflich­ten für die Steu­er­jahre 2004 und 2005 nicht nach­ge­kom­men, was zum Ver­lust von Ein­nah­men bei ver­schie­de­nen Steu­er­ar­ten geführt habe. Im Mai 2007 setzte die schwe­di­sche Fi­nanz­ver­wal­tung für die Steu­er­jahre 2004 und 2005 steu­er­li­che Sank­tio­nen ge­gen den Be­schul­dig­ten fest.

2009 lei­tete das zuständige schwe­di­sche Ge­richt ein Straf­ver­fah­ren ge­gen ihn ein. Die Staats­an­walt­schaft wirft ihm Steu­er­hin­ter­zie­hung (für die Jahre 2004 und 2005) vor, die nach schwe­di­schem Recht mit Frei­heits­strafe von bis zu sechs Jah­ren be­straft wird. Die­sem Ver­fah­ren liegt die­selbe Tat der Ab­gabe un­zu­tref­fen­der Steu­er­erklärun­gen zu­grunde, die auch zu den steu­er­li­chen Sank­tio­nen geführt hat.

Das schwe­di­sche Ge­richt möchte ins­bes. wis­sen, ob die An­klage ge­gen den Be­schul­dig­ten un­zulässig ist, weil er in einem an­de­ren Ver­fah­ren be­reits we­gen der­sel­ben Tat be­straft wurde. Wei­ter fragt es sich, ob die schwe­di­sche Ge­richts­pra­xis, die die Ver­pflich­tung, Vor­schrif­ten, die ge­gen ein durch die EMRK und die Charta ga­ran­tier­tes Grund­recht ver­stoßen, un­an­ge­wen­det zu las­sen, da­von abhängig macht, dass sich die­ser Ver­stoß klar aus den be­tref­fen­den Rechts­vor­schrif­ten oder der ent­spre­chen­den Recht­spre­chung er­gibt, mit dem Uni­ons­recht ver­ein­bar ist.

Die Gründe:
Der Grund­satz des Ver­bots der Dop­pel­be­stra­fung hin­dert einen Mit­glied­staat nicht daran, zur Ahn­dung der­sel­ben Tat der Nicht­be­ach­tung von Erklärungs­pflich­ten im Be­reich der Mehr­wert­steuer eine steu­er­li­che Sank­tion und da­nach eine straf­recht­li­che Sank­tion zu verhängen. Die Mit­glied­staa­ten können, um die Er­he­bung der Ein­nah­men aus der Mehr­wert­steuer in ih­rer Ge­samt­heit und da­mit den Schutz der fi­nan­zi­el­len In­ter­es­sen der Union zu gewähr­leis­ten, die an­wend­ba­ren Sank­tio­nen frei wählen. Da­bei kann es sich um ver­wal­tungs­recht­li­che oder straf­recht­li­che Sank­tio­nen oder um eine Kom­bi­na­tion der bei­den han­deln. Nur wenn die steu­er­li­che Sank­tion straf­recht­li­chen Cha­rak­ter i.S.d. Charta hat und un­an­fecht­bar ge­wor­den ist, steht diese Vor­schrift der Ein­lei­tung ei­nes Straf­ver­fah­rens ge­gen die­selbe Per­son we­gen der­sel­ben Tat ent­ge­gen.

Für die Be­ur­tei­lung der straf­recht­li­chen Na­tur von steu­er­li­chen Sank­tio­nen sind drei Kri­te­rien maßgeb­lich:

  • 1. die recht­li­che Ein­ord­nung der Zu­wi­der­hand­lung im in­ner­staat­li­chen Recht,
  • 2. die Art der Zu­wi­der­hand­lung und
  • 3. die Art und der Schwe­re­grad der dem Be­trof­fe­nen an­ge­droh­ten Sank­tion.

Es ist Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts da­nach zu be­ur­tei­len, ob die nach na­tio­na­lem Recht vor­ge­se­hene Ku­mu­lie­rung von steu­er­li­chen und straf­recht­li­chen Sank­tio­nen an­hand der na­tio­na­len Schutz­stan­dards zu prüfen ist, so dass das Ge­richt un­ter Umständen zu dem Er­geb­nis ge­lan­gen kann, dass diese Ku­mu­lie­rung ge­gen diese Stan­dards verstößt, so­fern die ver­blei­ben­den Sank­tio­nen wirk­sam, an­ge­mes­sen und ab­schre­ckend sind.

Wei­ter stellt der EuGH fest, dass das Uni­ons­recht nicht das Verhält­nis zwi­schen der EMRK und den Rechts­ord­nun­gen der Mit­glied­staa­ten re­gelt und auch nicht be­stimmt, wel­che Kon­se­quen­zen ein na­tio­na­les Ge­richt aus einem Wi­der­spruch zwi­schen den durch die EMRK gewähr­leis­te­ten Rech­ten und ei­ner na­tio­na­len Rechts­vor­schrift zu zie­hen hat. Das na­tio­nale Ge­richt, das im Rah­men sei­ner Zuständig­keit die Be­stim­mun­gen des Uni­ons­rechts an­zu­wen­den hat, ist je­doch ge­hal­ten, für die volle Wirk­sam­keit die­ser Nor­men Sorge zu tra­gen, in­dem es er­for­der­li­chen­falls jede - auch spätere - ent­ge­gen­ste­hende Be­stim­mung des na­tio­na­len Rechts aus ei­ge­ner Ent­schei­dungs­be­fug­nis un­an­ge­wandt lässt, ohne dass es die vor­he­rige Be­sei­ti­gung die­ser Be­stim­mung auf ge­setz­ge­be­ri­schem Wege oder durch ir­gend­ein an­de­res ver­fas­sungs­recht­li­ches Ver­fah­ren be­an­tra­gen oder ab­war­ten müsste.

Das Uni­ons­recht steht ei­ner Ge­richts­pra­xis ent­ge­gen, die die Ver­pflich­tung des na­tio­na­len Ge­richts, Vor­schrif­ten, die ge­gen ein durch die Charta ga­ran­tier­tes Grund­recht ver­stoßen, un­an­ge­wen­det zu las­sen, da­von abhängig macht, dass sich die­ser Ver­stoß klar aus den Be­stim­mun­gen der Charta oder aus der ent­spre­chen­den Recht­spre­chung er­gibt, wenn sie dem na­tio­na­len Ge­richt die Be­fug­nis ab­spricht - ggf. in Zu­sam­men­ar­beit mit dem EuGH - die Ver­ein­bar­keit die­ser Be­stim­mung mit der Charta um­fas­send zu be­ur­tei­len.

Link­hin­weis:

Für den auf den Web­sei­ten des EuGH veröff­ent­lich­ten Voll­text der Ent­schei­dung kli­cken Sie bitte hier.

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