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Europarecht: Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs für Unternehmen im Bereich Elektrizität und Erdgas

EuGH 22.10.2013, C-105/12 u.a.

Be­schränkun­gen des freien Ka­pi­tal­ver­kehrs, die auf den Märk­ten für Elek­tri­zität und Erd­gas tätige Un­ter­neh­men be­tref­fen, können mit dem Eu­ro­pa­recht im Ein­klang ste­hen. In die­sem Zu­sam­men­hang stel­len die Ziele, zum Schutz der Ver­brau­cher einen un­verfälsch­ten Wett­be­werb auf­recht­zu­er­hal­ten und die Si­cher­heit der En­er­gie­ver­sor­gung zu gewähr­leis­ten, zwin­gende Gründe des All­ge­mein­in­ter­es­ses dar

Hin­ter­grund:
Nach Richt­li­nien aus dem Jahr 2003 soll das Uni­ons­recht im Be­reich des Elek­tri­zitäts- und Erd­gas­bin­nen­markts u.a. einen of­fe­nen und trans­pa­ren­ten Markt, einen nicht­dis­kri­mi­nie­ren­den und trans­pa­ren­ten Zu­gang zum Netz des Ver­tei­ler­netz­be­trei­bers so­wie einen fai­ren Wett­be­werb gewähr­leis­ten. Nach neue­ren nie­derländi­schen Rechts­vor­schrif­ten darf ein pri­va­ter In­ves­tor keine An­teile an einem im nie­derländi­schen Ho­heits­ge­biet täti­gen Elek­tri­zitäts- oder Gas­ver­tei­ler­netz­be­trei­ber oder Be­tei­li­gun­gen an des­sen Ka­pi­tal er­wer­ben oder hal­ten ("Pri­va­ti­sie­rungs­ver­bot").

Außer­dem sind Be­tei­li­gun­gen oder Be­herr­schungs­verhält­nisse zwi­schen Ge­sell­schaf­ten ei­nes Kon­zerns, dem ein sol­cher Be­trei­ber an­gehört, und Ge­sell­schaf­ten ei­nes Kon­zerns, dem ein Un­ter­neh­men an­gehört, das im nie­derländi­schen Ho­heits­ge­biet Elek­tri­zität oder Gas er­zeugt, lie­fert oder ver­treibt, ver­bo­ten ("Kon­zern­ver­bot"). Schließlich ver­bie­tet das na­tio­nale Recht auch, dass ein Ver­tei­ler­netz­be­trei­ber oder der Kon­zern, dem er an­gehört, Hand­lun­gen oder Tätig­kei­ten vor­nimmt, die dem In­ter­esse des be­tref­fen­den Netz­be­triebs zu­wi­der­lau­fen könn­ten.

Der Sach­ver­halt:
Zum Zeit­punkt des Er­las­ses die­ser Rechts­vor­schrif­ten wa­ren Es­sent, Eneco und Delta ver­ti­kal in­te­grierte Un­ter­neh­men, die im nie­derländi­schen Ho­heits­ge­biet so­wohl im Be­reich der Er­zeu­gung, der Lie­fe­rung und/oder des Ver­triebs von Elek­tri­zität und/oder Gas als auch im Be­reich des Be­triebs und der Be­wirt­schaf­tung von Elek­tri­zitäts- und/oder Gas­ver­tei­ler­net­zen tätig wa­ren. In­folge des Er­las­ses der Rechts­vor­schrif­ten, mit de­nen das Pri­va­ti­sie­rungs­ver­bot, das Kon­zern­ver­bot und das Ver­bot von dem In­ter­esse des Netz­be­triebs po­ten­zi­ell zu­wi­der­lau­fen­den Tätig­kei­ten ein­geführt wur­den, wurde die Es­sent NV am 1.7.2009 in zwei ver­schie­dene Ge­sell­schaf­ten auf­ge­spal­ten.

Zum einen die Ene­xis Hol­ding NV, de­ren Ge­sell­schafts­zweck der Be­trieb ei­nes Gas- und Elek­tri­zitätsver­tei­ler­net­zes im nie­derländi­schen Ho­heits­ge­biet ist und de­ren sämt­li­che An­teile von der öff­ent­li­chen Hand ge­hal­ten wer­den, und zum an­de­ren die Es­sent NV, de­ren Ge­sell­schafts­zweck die Er­zeu­gung, die Lie­fe­rung und der Ver­trieb von Elek­tri­zität und Gas ist. Die letzt­ge­nannte Ge­sell­schaft wurde von der Toch­ter­ge­sell­schaft ei­nes deut­schen En­er­gie­kon­zerns, der RWE AG, auf­ge­kauft. Die Eneco Hol­ding NV und die Delta NV wur­den nicht auf­ge­spal­ten, son­dern be­stimm­ten je­weils ihre Toch­ter­ge­sell­schaf­ten Stedin Net­be­heer BV und Delta Net­werk­be­drijf BV als Be­trei­ber ih­rer Ver­tei­ler­netze.

Vor die­sem Hin­ter­grund rie­fen Es­sent, Eneco und Delta die na­tio­na­len Ge­richte an, weil sie die na­tio­na­len Rechts­vor­schrif­ten für mit dem freien Ka­pi­tal­ver­kehr un­ver­ein­bar hal­ten. Der als letzt­in­stanz­li­ches nie­derländi­sches Ge­richt mit dem Rechts­streit be­fasste Hoge Raad der Ne­der­lan­den be­schloss, sich in die­ser Frage an den Ge­richts­hof zu wen­den.

Die Gründe:
Das Pri­va­ti­sie­rungs­ver­bot - das u.a. be­sagt, dass kein pri­va­ter In­ves­tor An­teile an einem im nie­derländi­schen Ho­heits­ge­biet täti­gen Elek­tri­zitäts- oder Gas­ver­tei­ler­netz­be­trei­ber er­wer­ben oder sich an des­sen Ka­pi­tal be­tei­li­gen kann - fällt un­ter Art. 345 AEUV. Diese Vor­schrift bringt den Grund­satz der Neu­tra­lität der Verträge ge­genüber der Ei­gen­tums­ord­nung in den Mit­glied­staa­ten zum Aus­druck und er­laubt es den Mit­glied­staa­ten, das Ziel zu ver­fol­gen, für be­stimmte Un­ter­neh­men eine Zu­ord­nung des Ei­gen­tums in öff­ent­li­che Träger­schaft ein­zuführen oder auf­recht­zu­er­hal­ten. Art. 345 AEUV führt je­doch nicht dazu, dass die in den Mit­glied­staa­ten be­ste­hen­den Ei­gen­tums­ord­nun­gen den Grund­prin­zi­pien des AEUV, u.a. de­nen der Nicht­dis­kri­mi­nie­rung, der Nie­der­las­sungs­frei­heit und der Ka­pi­tal­ver­kehrs­frei­heit, ent­zo­gen sind.

Das Pri­va­ti­sie­rungs­ver­bot stellt in­so­weit auf­grund sei­ner Wir­kun­gen eine Be­schränkung des freien Ka­pi­tal­ver­kehrs dar. Al­ler­dings können die der in den na­tio­na­len Rechts­vor­schrif­ten ge­trof­fe­nen Ent­schei­dung hin­sicht­lich des Ei­gen­tums­sys­tems zu­grunde lie­gen­den Gründe als Ge­sichts­punkte berück­sich­tigt wer­den und die Be­schränkun­gen des freien Ka­pi­tal­ver­kehrs recht­fer­ti­gen. Es ist Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts, eine ent­spre­chende Prüfung vor­zu­neh­men. Das Kon­zern­ver­bot und Ver­bot von dem In­ter­esse des Netz­be­triebs zu­wi­der­lau­fen­den Tätig­kei­ten stel­len darüber hin­aus eben­falls Be­schränkun­gen des freien Ka­pi­tal­ver­kehrs dar, die der Recht­fer­ti­gung bedürfen. Die in der Frage des vor­le­gen­den Ge­richts ge­nann­ten Ziele, Quer­sub­ven­tio­nie­run­gen im wei­ten Sinne ein­schließlich des Aus­tauschs stra­te­gi­scher In­for­ma­tio­nen zu un­ter­bin­den, Trans­pa­renz auf den Märk­ten für Elek­tri­zität und Gas zu schaf­fen und Wett­be­werbs­ver­zer­run­gen zu ver­hin­dern, zie­len dar­auf ab, einen un­verfälsch­ten Wett­be­werb auf den Märk­ten für die Er­zeu­gung, die Lie­fe­rung und den Ver­trieb von Elek­tri­zität und Gas zu gewähr­leis­ten.

Das Ziel der Ver­hin­de­rung von Quer­sub­ven­tio­nie­run­gen soll zu­dem aus­rei­chende In­ves­ti­tio­nen in die Elek­tri­zitäts- und Gas­ver­tei­ler­netze ga­ran­tie­ren. Die be­tref­fen­den na­tio­na­len Maßnah­men ver­fol­gen so­mit zwin­gende Ziele, die im All­ge­mein­in­ter­esse lie­gen. Denn das Ziel ei­nes un­verfälsch­ten Wett­be­werbs wird auch vom AEU-Ver­trag ver­folgt und soll letzt­lich den Ver­brau­cher schützen und der Schutz der Ver­brau­cher ist ein zwin­gen­der Grund des All­ge­mein­in­ter­es­ses. Das Ziel, aus­rei­chende In­ves­ti­tio­nen in die Elek­tri­zitäts- und Gas­ver­tei­ler­netze zu ga­ran­tie­ren, soll u.a. die Si­cher­heit der En­er­gie­ver­sor­gung gewähr­leis­ten; ein Ziel, das der EuGH eben­falls als zwin­gen­den Grund des All­ge­mein­in­ter­es­ses an­er­kannt hat.

Schließlich sind das Kon­zern­ver­bot und das Ver­bot von dem In­ter­esse des Netz­be­triebs po­ten­zi­ell zu­wi­der­lau­fen­den Tätig­kei­ten mit dem nie­derländi­schen Ge­setz ein­geführt wor­den, das u.a. zur Um­set­zung der Richt­li­nien von 2003 er­las­sen wurde. Auch wenn die bei­den Ver­bote in die­sen Richt­li­nien nicht ver­langt wer­den, hat das König­reich der Nie­der­lande mit der Einführung die­ser Maßnah­men Ziele ver­folgt, die mit den ge­nann­ten Richt­li­nien an­ge­strebt wer­den. Die vom vor­le­gen­den Ge­richt ge­nann­ten Ziele können da­her grundsätz­lich als zwin­gende Gründe des All­ge­mein­in­ter­es­ses die fest­ge­stell­ten Be­schränkun­gen der Grund­frei­hei­ten recht­fer­ti­gen. Al­ler­dings müssen die be­tref­fen­den Be­schränkun­gen den ver­folg­ten Zie­len an­ge­mes­sen sein und dürfen nicht über das zu de­ren Er­rei­chung Er­for­der­li­che hin­aus­ge­hen. Dies zu prüfen, ist Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts.

Link­hin­weis:

Für den auf den Web­sei­ten des EuGH veröff­ent­lich­ten Voll­text der Ent­schei­dung kli­cken Sie bitte hier.

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