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BFH zum Kindergeldanspruch für ins Inland entsendete polnische Arbeitnehmer

Urteil des BFH vom 28.3.2012 - II R 57/10

Bestätigt der zuständige Träger ei­nes Mit­glied­staa­tes, ins­be­son­dere durch Er­tei­lung ei­ner Ent­sen­de­be­schei­ni­gung nach dem For­mu­lar E 101, dass für einen be­stimm­ten Zeit­raum ein Fall des Art. 14 Nr. 1a oder b der VO Nr. 1408/71 ge­ge­ben war, ist diese Be­schei­ni­gung für die Fa­mi­li­en­kasse und das Fi­nanz­ge­richt bin­dend. Dies gilt, so­lange die Be­schei­ni­gung nicht zurück­ge­zo­gen oder für ungültig erklärt wird.

Der Sach­ver­halt:
Der Kläger ist pol­ni­scher Staats­an­gehöri­ger und hatte Ende Juli 2007 rück­wir­kend ab Mai 2004 Kin­der­geld für seine in Po­len le­ben­den drei Kin­der be­an­tragt. Die Fa­mi­li­en­kasse lehnte den An­trag un­ter Hin­weis dar­auf ab, dass der Kläger in Po­len so­zi­al­ver­si­chert sei und die­ser Tat­be­stand einen An­spruch auf deut­sches Kin­der­geld aus­schließe. Der Kläger legte im Kla­ge­ver­fah­ren u.a. eine Be­schei­ni­gung sei­nes pol­ni­schen Ar­beit­ge­bers vor, wo­nach er ab Ja­nuar 2005 für un­be­stimmte Zeit be­schäftigt und ab dem April 2005 an einen ausländi­schen Be­trieb in Deutsch­land ent­sandt wor­den sei. Eine Ver­si­che­rungs­pflicht zur BfA be­stehe nicht, da Ver­si­che­rungs­pflicht in Po­len vor­liege.

Das FG ver­pflich­tete die Fa­mi­li­en­kasse hin­sicht­lich des ver­blei­ben­den Streit­ge­gen­stands dazu, dem Kläger für seine Kin­der Kin­der­geld für die Zeit ab April 2005 in ge­setz­li­cher Höhe zu gewähren. Die Fa­mi­li­en­kasse rügte dar­auf­hin eine un­zu­tref­fende Aus­le­gung der Art. 13 und 14 der Ver­ord­nung (EWG) Nr. 1408/71. Zu Recht sei das FG zwar da­von aus­ge­gan­gen, dass für den Kläger die VO Nr. 1408/71 gelte. In­kon­se­quen­ter­weise habe das FG al­ler­dings trotz die­ser Fest­stel­lung noch § 65 Abs. 1 S. 2 EStG geprüft, der bei An­wend­bar­keit der Ver­ord­nung von die­ser verdrängt werde.

Auf die Re­vi­sion der Fa­mi­li­en­kasse hob der BFH das Ur­teil auf und wies die Sa­che zur er­neu­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung an das FG zurück.

Die Gründe:
Die von dem FG ge­trof­fe­nen Fest­stel­lun­gen konn­ten nicht die aus­ge­spro­chene Rechts­folge tra­gen, dass we­der durch Art. 14 Nr. 1a u. b der VO Nr. 1408/71 noch durch Art. 17 der VO Nr. 1408/71 die durch Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2a der VO Nr. 1408/71 be­wirkte An­wend­bar­keit des Rechts des Be­schäfti­gungs­staats Deutsch­land verdrängt werde. Die bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen ermöglich­ten keine ab­schließende Ent­schei­dung dazu, ob deut­sches oder pol­ni­sches Recht auf den Kläger an­zu­wen­den ist.

Zwar hatte das FG zu Recht das auf den Kläger an­zu­wen­dende Recht nach den Vor­schrif­ten des Ti­tels II der VO Nr. 1408/71 (Art. 13 ff.) be­stimmt. Al­ler­dings durfte es, so­weit es um die An­wend­bar­keit der Re­ge­lung des Art. 14 Nr. 1a u. b der VO Nr. 1408/71 für ent­sandte Ar­beit­neh­mer ging, aus der Tat­sa­che, dass der Kläger ab April 2005 als ent­sand­ter Ar­beit­neh­mer tätig war, nicht dar­auf schließen, dass Art. 14 Nr. 1a u. b der VO Nr. 1408/71 be­reits vom Be­ginn des Ent­sen­dungs­zeit­raums nicht ein­grei­fen könne. Er­gibt sich aus ei­ner Ar­beit­ge­ber­be­schei­ni­gung, die von einem im In­land als Ar­beit­neh­mer täti­gen Staats­an­gehöri­gen ei­nes an­de­ren Mit­glied­staats vor­ge­legt wird, dass die Ent­sen­dung un­ter Bei­be­hal­tung der So­zi­al­ver­si­che­rung im Hei­mat­land über zwei Jahre ge­dau­ert hat, kann dar­aus nicht ge­schlos­sen wer­den, dass die Ent­sen­dungs­vor­aus­set­zun­gen nach Art. 14 Nr. 1a u. b der VO Nr. 1408/71 be­reits von Be­ginn des Ent­sen­dungs­zeit­raums an nicht vor­ge­le­gen ha­ben können.

Ob die Vor­aus­set­zun­gen der Ent­sen­dungs­vor­aus­set­zun­gen ge­ge­ben wa­ren, muss das FG un­ter Aus­nut­zung al­ler verfügba­ren Be­weis­mit­tel aufklären. Es darf sich nicht al­lein auf die Würdi­gung der Be­schei­ni­gung des pol­ni­schen Ar­beit­ge­bers be­schränken, ins­be­son­dere wenn das FG - wie of­fen­sicht­lich hier - Zwei­fel an der Rich­tig­keit der An­ga­ben hat und des­halb ent­ge­gen dem Wort­laut der Be­schei­ni­gung von dem Feh­len der Ei­gen­schaft "ent­sen­de­ter Ar­beit­neh­mer" mit "Ver­si­che­rungs­pflicht in Po­len" aus­geht.

Er­ge­ben sich aus der vor­ge­leg­ten Ar­beit­ge­ber­be­schei­ni­gung Zwei­fel an dem Vor­lie­gen der Ent­sen­dungs­vor­aus­set­zun­gen, ist bei den Trägern und Stel­len, die über das auf den An­spruch­stel­ler an­zu­wen­dende Recht zu be­fin­den ha­ben, zu er­mit­teln, wel­che Rechts­vor­schrif­ten im An­spruchs­zeit­raum auf den An­spruch­stel­ler An­wen­dung fan­den. Bestätigt der zuständige Träger des an­de­ren Mit­glied­staats, ins­be­son­dere durch Er­tei­lung ei­ner Ent­sen­de­be­schei­ni­gung nach dem For­mu­lar E 101, dass für einen be­stimm­ten Zeit­raum ein Fall des Art. 14 Nr. 1a oder b der VO Nr. 1408/71 ge­ge­ben war, ist diese Be­schei­ni­gung für die Fa­mi­li­en­kasse und das Fi­nanz­ge­richt bin­dend, so­lange sie nicht zurück­ge­zo­gen oder für ungültig erklärt wird.

Soll­ten die noch er­for­der­li­chen Er­mitt­lun­gen des FG er­ge­ben, dass für einen Teil oder für den ge­sam­ten strei­ti­gen Zeit­raum auf den Kläger pol­ni­sche Rechts­vor­schrif­ten An­wen­dung fin­den, stellte sich die Frage, ob Deutsch­land als der nach der VO Nr. 1408/71 dann nicht zuständige Mit­glied­staat gleich­wohl be­fugt wäre, Kin­der­geld nach den §§ 62 ff. EStG zu zah­len, und ob in einem sol­chen Fall der An­wen­dung des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG uni­ons­recht­li­che Vor­schrif­ten ent­ge­genstünden. In­so­weit han­delte es sich um die glei­chen Fra­ge­stel­lun­gen, die be­reits Ge­gen­stand des Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chens des Se­nats vom 21.10.2010 (Az.: III R 5/09) sind, so dass eine Aus­set­zung des fi­nanz­ge­richt­li­chen Ver­fah­rens bis zur Ent­schei­dung des EuGH in dem bei die­sem anhängi­gen Ver­fah­ren C-612/10 in Be­tracht kom­men könnte.

Link­hin­weis:
  • Der Voll­text der Ent­schei­dung ist auf der Home­page des BFH veröff­ent­licht.
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