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Wann übersteigen Hilfsmittel das medizinisch notwendige Maß?

BGH 22.4.2015, IV ZR 419/13

Auf­wen­dun­gen für ein vom Arzt ver­ord­ne­tes und vom Ver­si­che­rungs­neh­mer er­wor­be­nes Hilfs­mit­tel über­stei­gen das me­di­zi­ni­sch not­wen­dige Maß, wenn ei­ner­seits das Hilfs­mit­tel zusätz­li­che, nicht benötigte Funk­tio­nen oder Aus­stat­tungs­merk­male auf­weist, und an­de­rer­seits zu­gleich preis­wer­tere, den not­wen­di­gen me­di­zi­ni­schen An­for­de­run­gen für den je­wei­li­gen Ver­si­che­rungs­neh­mer ent­spre­chende Hilfs­mit­tel ohne diese zusätz­li­chen Funk­tio­nen oder Aus­stat­tungs­merk­male zur Verfügung ste­hen. Der Ver­si­che­rer muss be­wei­sen, dass bei einem an sich not­wen­di­gen Hilfs­mit­tel be­stimmte Funk­tio­nen oder Aus­stat­tungs­merk­male me­di­zi­ni­sch nicht not­wen­dig sind.

Der Sach­ver­halt:
Die Kläge­rin un­terhält bei der Be­klag­ten eine pri­vate Krank­heits­kos­ten­ver­si­che­rung. Dem Ver­si­che­rungs­ver­trag lie­gen die Rah­men­be­din­gun­gen 2009 (RB/KK 2009) und Ta­rif­be­din­gun­gen 2009 (TB/KK 2009)zu­grunde. Die Par­teien strit­ten in der Ver­gan­gen­heit über den Um­fang der Er­stat­tungs­pflicht der Be­klag­ten für den Er­werb ei­nes Hörgerätes.

Nach­dem der Kläge­rin für ihr lin­kes Ohr ein Hörgerät ver­ord­net wor­den war, nahm sie eine ver­glei­chende An­pas­sung ver­schie­de­ner Hörgeräte­ty­pen vor und er­warb schließlich ein Hörgerät Wi­dex Clear 440c zum Preis von 3.083 €. Die Be­klagte er­stat­tete hier­auf le­dig­lich 1.500 €, weil sie der Auf­fas­sung war, dass das Gerät me­di­zi­ni­sch nicht not­wen­dig sei, da es zahl­rei­che im Falle der Kläge­rin me­di­zi­ni­sch nicht ge­bo­tene Aus­stat­tungs­merk­male auf­weise. Al­ter­na­tiv­geräte seien für 1.500 € zu er­hal­ten. Sie be­rief sich in­so­fern auf den Leis­tungs­aus­schluss nach § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK.

AG und LG ga­ben der auf Zah­lung des Dif­fe­renz­be­tra­ges von 1.583 € ge­rich­te­ten Klage statt. Auf die Re­vi­sion der Be­klag­ten hob der BGH das Be­ru­fungs­ur­teil auf und wies die Sa­che zur er­neu­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung an das LG zurück.

Gründe:
Zunächst war das Be­ru­fungs­ge­richt zu Un­recht der An­sicht, dass sich das Leis­tungskürzungs­recht des Ver­si­che­rers in § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK 2009 nicht auf Auf­wen­dun­gen für Hilfs­mit­tel be­zieht.

All­ge­meine Ver­si­che­rungs­be­din­gun­gen sind nach ständi­ger BGH-Recht­spre­chung so aus­zu­le­gen, wie sie ein durch­schnitt­li­cher Ver­si­che­rungs­neh­mer bei verständi­ger Würdi­gung, auf­merk­sa­mer Durch­sicht und un­ter Berück­sich­ti­gung des er­kenn­ba­ren Sinn­zu­sam­men­hangs ver­ste­hen muss. Dem Wort­laut des § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK 2009 kann der Ver­si­che­rungs­neh­mer ent­neh­men, dass die Leis­tungs­ein­schränkung für Heil­be­hand­lun­gen und sons­tige Maßnah­men gel­ten soll. Er kann als Ziel der Übermaßre­ge­lung er­ken­nen, dass der Ver­si­che­rer sich vor ei­ner unnöti­gen Kos­ten­be­las­tung durch aus me­di­zi­ni­scher Sicht nicht not­wen­dige "Maßnah­men" schützen will. Dies gilt für Hilfs­mit­tel ebenso wie für Heil­be­hand­lungsmaßnah­men. Im Ge­gen­teil be­steht die Ge­fahr ei­ner Über­ver­sor­gung, der die Re­ge­lung er­kenn­bar vor­beu­gen will, ge­rade dann, wenn die Aus­wahl des kon­kre­ten Hilfs­mit­tels von ei­ner Wil­lens­ent­schei­dung des Ver­si­che­rungs­neh­mers abhängt.

Die Auf­wen­dun­gen für ein vom Arzt ver­ord­ne­tes und vom Ver­si­che­rungs­neh­mer er­wor­be­nes Hilfs­mit­tel über­stei­gen das me­di­zi­ni­sch not­wen­dige Maß i.S.v. § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK 2009 dann, wenn ei­ner­seits das Hilfs­mit­tel zusätz­li­che, nicht benötigte Funk­tio­nen oder Aus­stat­tungs­merk­male auf­weist, und an­de­rer­seits zu­gleich preis­wer­tere, den not­wen­di­gen me­di­zi­ni­schen An­for­de­run­gen für den je­wei­li­gen Ver­si­che­rungs­neh­mer ent­spre­chende Hilfs­mit­tel ohne diese zusätz­li­chen Funk­tio­nen oder Aus­stat­tungs­merk­male zur Verfügung ste­hen. Al­ler­dings muss der Ver­si­che­rer, der seine Leis­tun­gen we­gen ei­ner Übermaßbe­hand­lung kürzen will, be­wei­sen, dass bei ei­ner an sich me­di­zi­ni­sch not­wen­di­gen Heil­be­hand­lung eine ein­zelne Be­hand­lungsmaßnahme me­di­zi­ni­sch nicht not­wen­dig ist.

Über­tra­gen auf Hilfs­mit­tel muss der Ver­si­che­rer, um sich auf die Leis­tungs­ein­schränkung be­ru­fen zu können, dar­le­gen und be­wei­sen, dass bei einem an sich not­wen­di­gen Hilfs­mit­tel be­stimmte Funk­tio­nen oder Aus­stat­tungs­merk­male me­di­zi­ni­sch nicht not­wen­dig sind. Darüber hin­aus muss er auch dar­le­gen und be­wei­sen, dass ein Hilfs­mit­tel ohne diese Aus­stat­tungs­merk­male oder Funk­tio­nen, wel­ches eben­falls - ge­mes­sen an den Bedürf­nis­sen des Ver­si­che­rungs­neh­mers - das me­di­zi­ni­sch not­wen­dige Maß erfüllt, zu einem nied­ri­ge­ren Preis auf dem Markt erhält­lich ist.

Nicht ge­folgt wer­den konnte der An­sicht des Be­ru­fungs­ge­richts, dass eine Übermaßver­sor­gung nur dann vorläge, wenn das er­wor­bene Hörgerät im Schwer­punkt mehr als die Er­satz­funk­tion leis­tete. Diese Be­trach­tung ver­fehlte den Zweck der Übermaßre­ge­lung. Das Be­ru­fungs­ge­richt hätte viel­mehr fest­stel­len müssen, ob auch die­sen Ausführun­gen des Sach­verständi­gen zur hin­rei­chen­den Eig­nung der Geräte für die Kläge­rin zu fol­gen ist. Es wird im wei­te­ren Ver­fah­ren mit Hilfe des Sach­verständi­gen klären müssen, ob die Eig­nung ei­nes Hörgerätes für einen Pa­ti­en­ten al­lein an­hand tech­ni­scher Da­ten be­stimmt wer­den kann.

Link­hin­weis:

  • Der Voll­text der Ent­schei­dung ist auf der Home­page des BGH veröff­ent­licht.
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