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Entscheidung über Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO in gesondertem Verwaltungsverfahren

BFH 21.7.2016, X R 11/14

Eine ge­setz­li­che Frist, nach de­ren Ab­lauf eine Bil­lig­keitsmaßnahme nach § 163 AO nicht mehr be­an­tragt wer­den kann, be­stand vor In­kraft­tre­ten des § 171 Abs. 10 S. 2 AO nicht. Die Er­mes­sens­ent­schei­dung nach § 163 AO darf je­doch ein Zeit­mo­ment berück­sich­ti­gen. Ge­richte ha­ben Ver­wal­tungs­an­wei­sun­gen nicht selbst aus­zu­le­gen, son­dern nur dar­auf zu überprüfen, ob die Aus­le­gung durch die Behörde möglich ist.

Der Sach­ver­halt:
Die Kläger wer­den zu­sam­men zur Ein­kom­men­steuer ver­an­lagt. Die Kläge­rin hatte 1994 und 1995 ein Mehr­fa­mi­li­en­haus mit sie­ben Wohn­ein­hei­ten er­rich­tet und drei da­von im Jahre 1995 veräußert. Das da­mals zuständige Fi­nanz­amt X be­han­delte dies nach Durchführung ei­ner Steu­er­fahn­dungsprüfung als ge­werb­li­chen Grundstücks­han­del und er­fasste in dem Ein­kom­men­steu­er­be­scheid 1995 bei der Kläge­rin Einkünfte aus Ge­wer­be­be­trieb. Während des dies­bezügli­chen Kla­ge­ver­fah­rens (7 K 8270/99 E) er­ging die Ent­schei­dung des Großen Se­nats des BFH vom 10.12.2001 (GrS 1/98). Der da­ma­lige Be­vollmäch­tigte der Kläger wies mit Schrift­satz vom 10.3.2003 dar­auf hin, dass da­nach die Vor­aus­set­zun­gen ei­nes ge­werb­li­chen Grundstücks­han­dels vor­lie­gen dürf­ten. Al­ler­dings sei das Fi­nanz­amt X auf­grund des BMF-Schrei­bens vom 19.2.2003 (IV A 6-S 2240-15/03) ge­hal­ten, die Recht­spre­chung des BFH nicht auf die Kläge­rin an­zu­wen­den. Diese Selbst­bin­dung der Ver­wal­tung müsse auch das Ge­richt be­ach­ten.

Das Fi­nanz­amt X ver­trat dem­ge­genüber die Auf­fas­sung, das BMF-Schrei­ben sei im Falle der Kläge­rin nicht an­zu­wen­den. Im Juni 2003 kündigte der Be­vollmäch­tigte mit dem ausdrück­li­chen Be­mer­ken, im vor­lie­gen­den Ver­fah­ren sei die Berück­sich­ti­gung des Schrei­bens nicht möglich, einen ge­son­der­ten auf § 163 der AO zu stützen­den Er­las­san­trag beim Fi­nanz­amt X an, den er dem FG zur Kennt­nis ge­ben wollte. Nach den Fest­stel­lun­gen des FG be­fin­det sich ein sol­cher An­trag we­der in der da­ma­li­gen Ge­richts­akte noch in den da­mals vor­ge­leg­ten Steu­er­ak­ten. Mit Ur­teil vom 16.7.2003 (7 K 8270/99 E) wies das FG, so­weit der ge­werb­li­che Grundstücks­han­del dem Grunde nach in Frage stand, die Klage ab. Über eine Bil­lig­keitsmaßnahme sei in einem ge­son­der­ten Ver­fah­ren zu ent­schei­den. Die Höhe des zu er­fas­sen­den Ge­winns war Ge­gen­stand ei­ner tatsäch­li­chen Verständi­gung. Die Klage ge­gen den ent­spre­chen­den Ände­rungs­be­scheid vom 19.9.2003 (3 K 892/12 E) nah­men die Kläger im Mai 2013 zurück.

Mit Schrei­ben von Juni 2010 hat­ten sich die Kläger an den da­ma­li­gen Fi­nanz­mi­nis­ter des Lan­des NRW ge­wandt und um Überprüfung der steu­er­li­chen Würdi­gung des Vor­gangs, ins­be­son­dere der An­wen­dung des BMF-Schrei­bens vom 19.2.2003 ge­be­ten. Das mitt­ler­weile zuständige Fi­nanz­amt lehnte die ab­wei­chende Fest­set­zung u.a. un­ter Hin­weis auf das BFH-Ur­teil vom 8.10.1980 (II R 8/76) über verspätete Bil­lig­keits­anträge so­wie auf die Fris­ten des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO und des § 228 S. 2 AO durch Be­scheid von April 2011 ab. Der Ver­an­la­gungs­zeit­raum liege 15 Jahre zurück, der Ab­schluss des Kla­ge­ver­fah­rens mehr als sie­ben Jahre. Mit ih­rer Klage be­an­stan­den die Kläger im We­sent­li­chen das Feh­len von Er­mes­sen­serwägun­gen.

Das FG gab der Klage statt. Auf die Re­vi­sion des Fi­nanz­amts hob der BFH das Ur­teil auf und wies die Klage ab.

Die Gründe:
Das Fi­nanz­amt hat den An­trag auf ab­wei­chende Bil­lig­keits­fest­set­zung er­mes­sens­feh­ler­frei ab­ge­lehnt.

Nach § 163 AO können Steu­ern nied­ri­ger fest­ge­setzt wer­den und ein­zelne Be­steue­rungs­grund­la­gen, die die Steu­ern erhöhen, bei der Fest­set­zung der Steuer un­berück­sich­tigt blei­ben, wenn die Er­he­bung der Steuer nach Lage des ein­zel­nen Falls un­bil­lig wäre. Ver­fah­rens­recht­lich wird die Ent­schei­dung über eine Bil­lig­keitsmaßnahme nach § 163 AO, die kei­nes An­trags be­darf, in einem ge­son­der­ten Ver­wal­tungs­ver­fah­ren ge­trof­fen. Sie ist so­dann ein für die Fest­set­zung ei­ner Steuer bin­den­der Ver­wal­tungs­akt und da­mit Grund­la­gen­be­scheid für die Steu­er­fest­set­zung i.S.d. § 171 Abs. 10 AO, die folg­lich nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO an­zu­pas­sen ist. Das hier streit­ge­genständ­li­che BMF-Schrei­ben war eine sol­che er­mes­sens­len­kende Ver­wal­tungs­vor­schrift. Die Er­mes­sens­ausübung im Rah­men ei­ner Bil­lig­keitsmaßnahme nach § 163 AO darf auch ein Zeit­mo­ment berück­sich­ti­gen. Es exis­tiert keine ge­setz­li­che Frist für die Ent­schei­dung nach § 163 AO, die als vor­ran­gi­ges Recht stets zu be­ach­ten wäre.

Eine ab­wei­chende Fest­set­zung nach § 163 AO ist un­ter dem im Streit­fall noch gel­ten­den Recht zeit­lich nicht mit der Steu­er­fest­set­zung verknüpft, von der aus Bil­lig­keitsgründen ab­ge­wi­chen wer­den soll. Sie ist nach her­ge­brach­ter Recht­spre­chung auch möglich, wenn Letz­tere be­reits be­standskräftig ist, und zwar selbst dann, wenn für die­sen Be­scheid be­reits Fest­set­zungs­verjährung ein­ge­tre­ten ist. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO ermöglicht gleich­wohl die Folgeände­rung des Steu­er­be­scheids. § 171 Abs. 10 S. 2 AO ver­langt zwar für einen Grund­la­gen­be­scheid außer­halb von § 181 AO einen An­trag vor Ab­lauf der Fest­set­zungs­frist bei der zuständi­gen Behörde. Die Vor­schrift ist je­doch nach Art. 97 § 10 Abs. 12 des Einführungs­ge­set­zes zur AO erst für die am 31.12.2014 noch nicht ab­ge­lau­fe­nen Fest­set­zungs­fris­ten an­wend­bar. Die Fest­set­zungs­frist für den Ein­kom­men­steu­er­be­scheid 1995 war aber spätes­tens am 8.5.2013 ab­ge­lau­fen, als die Kläger die Klage ge­gen den in­folge des Ur­teils vom 16.7.2003 (7 K 8270/99 E) er­las­se­nen Ände­rungs­be­scheid zurück­nah­men.

Äußert sich eine Ver­wal­tungs­vor­schrift zu einem nach all­ge­mei­nen Grundsätzen als Er­mes­sens­kri­te­rium die­nen­den Punkt über­haupt nicht, hier zum Zeit­fak­tor, kann dies be­deu­ten, dass sie die Berück­sich­ti­gung des zeit­li­chen Ele­ments ge­ne­rell aus­schließen will. Sie kann aber auch so be­grif­fen wer­den, dass sie sich auf die Nicht­re­ge­lung be­schränkt und die Lücke mit Hilfe der all­ge­mei­nen Grundsätze auf­zufüllen ist. Das Fi­nanz­amt hat das BMF-Schrei­ben er­kenn­bar in der zu­letzt ge­nann­ten Weise ver­stan­den, da es an­dern­falls nicht auf das Zei­tele­ment hätte ab­stel­len können. Die­ses Verständ­nis ist maßge­bend. Die Ge­richte ha­ben Ver­wal­tungs­an­wei­sun­gen nicht selbst aus­zu­le­gen, son­dern nur dar­auf zu überprüfen, ob die Aus­le­gung durch die Behörde möglich ist.

Daran be­ste­hen im Streit­fall keine Zwei­fel. Es gibt keine Hin­weise dar­auf, dass das BMF-Schrei­ben die Berück­sich­ti­gung des Zeit­ab­laufs ka­te­go­ri­sch aus­blen­den wollte. Die­ser le­dig­lich ver­fah­rensmäßige As­pekt hat mit der zu­grun­de­lie­gen­den sach­li­chen Un­bil­lig­keit in Ge­stalt der ver­schärfen­den Recht­spre­chung zum ge­werb­li­chen Grundstücks­han­del un­mit­tel­bar nichts zu tun, son­dern gilt für alle Bil­lig­keitsmaßnah­men. Bei der nach § 102 S. 1 FGO ge­bo­te­nen Prüfung der fi­nanz­behörd­li­chen Ent­schei­dung nach die­sen Maßstäben ist die Ab­leh­nung der Bil­lig­keitsmaßnahme nicht zu be­an­stan­den. Das Fi­nanz­amt hat we­der die ge­setz­li­chen Gren­zen des Er­mes­sens über­schrit­ten noch von dem Er­mes­sen in ei­ner dem Zweck der Ermäch­ti­gung nicht ent­spre­chen­den Weise Ge­brauch ge­macht.

Link­hin­weis:

  • Der Voll­text der Ent­schei­dung ist auf der Home­page des BFH veröff­ent­licht.
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